Mai und Beaflor. Familientragödien, die Macht der Gefühle und rationales Kalkül in einem ‘sentimentalen’ Roman des späten 13. Jahrhunderts

Resumen

In der neueren Forschung spielen Emotionen und Affekte eine zunehmend bedeutende Rolle, aber man hat doch meistens dazu tendiert, Gefühlsausdrücke als nichts anderes als Rituale oder Gesten ohne jegliche bestimmte Bedeutung hinsichtlich des wahren Gefühlshaushalts eines Protagonisten anzusehen. Rituelles Verhalten erweist sich freilich, wenn auch noch so formalistisch gestaltet, stets als Spiegel, wenn nicht sogar als Maske von Emotionen. Aber selbst in höchst ‚sentimentalen‘ Romanen des hohen Mittelalters entdeckt man eine tiefgreifende Dialektik in der Hinsicht, denn sogar diejenigen Figuren, die anscheinend fast ausschließlich von Gefühlen bestimmt werden, legen bei genauerer Hinsicht doch deutlich zu Tage, wie sehr rationale Strategien und Überlegungen das Leben bestimmen, auch wenn noch so viele Tränen vergossen werden. Dies wird im vorliegenden Aufsatz vor allem anhand des anonym überlieferten Versromans Mai und Beaflor (Ende 13. Jh.) vor Augen geführt, wo die nur vordergründig affektbeherrschte Beaflor deutlich beweist, wie überzeugend rational sie vorzugehen vermag und damit sowohl sich selbst als auch ihren Ehemann Mai aus vielen von außen an sie herangetragenen Gefahren befreien kann, was ihnen letztlich ermöglicht, ein harmonisches und vernunftbestimmtes Leben zu führen. Dieser Roman ist aber nur eines von vielen Beispielen, die Belege dafür liefern, dass die kultursoziologische Theorie zum Zivilisationsprozess von Norbert Elias in ihrer Globalität nicht mehr ohne weiteres zu akzeptieren ist.